Achtsam ausrasten, Lektion 1 : Gehmeditationen
Im Projekt „Pursuit of Happiness“ geht es neben der Suche nach innerem Glück, oder besser ausgedrückt, der Suche nach Zufriedenheit, vor allem um die praktische Umsetzung der verschiedensten Ansätze . „Raab in Gefahr“ der Achtsamkeit quasi. Wenn ich mich also nicht auf Reisen befinde, teste ich für dich verschiedenste Meditations- und Atemübungen, beherzige Ratschläge aus der Verhaltenstherapie, dem Zen-Buddhismus und der yogischen Tradition und finde heraus, wie umsetzbar die Ansätze im westlichen Alltag, zwischen Job, Familie und politischer Endzeit-Stimmung tatsächlich sind.
Warum Achtsamkeit so essenziell wichtig ist und weshalb es sich wirklich für jeden lohnt, diesem Thema eine Chance zu geben, erläutere ich dir nochmal in einem gesonderten Artikel. Immerhin wirst du demnächst eine Referenz brauchen, um nicht umgehend in deinem Freundeskreis als Möchtegern-Hippie verschrien zu werden.
Wir finden für den Anfang auch unverfänglichere Label für deine neue Praxis. Statt dich bei einer Geh-Meditation erwischen zu lassen, „walkst du mal den Frust ab“, „lebst deine Liebe für Zahlen aus und zählst ne Runde Pflastersteine“, oder „hast da so ´ne Challenge und willst deine 10.000 Schritte noch voll kriegen“. Du kannst also vollkommen beruhigt sein, wir werden uns größte Mühe geben, dein Doppelleben als Teilzeit-Yogi möglichst lange unentdeckt zu behalten. „Agent Sitzkissen“ in geheimer Mission. Aber zurück zum Projekt. Nach Prag standen erstmal zwei Wochen in der Heimat an, bevor die Koffer fürs nächste „Pursuit of Happiness“ Abenteuer gepackt werden können. Und diese Zeit diente vor allem der Anwendbarkeit von verschiedenen Gehmeditationen.
Als Gesundheitswissenschaftlerin nehme ich das mit den 10.000 Schritten am Tag sehr ernst. So ernst, dass ich seit neuestem tatsächlich so eine ominöse Fitness-Uhr besitze, die stoisch meine Schritte zählt, damit ich öfter mein Handy daheim lassen kann. (Gnädigerweise dokumentiert sie nicht, wie viele davon zum Kühlschrank führen). Manchmal führt das zu irritierenden Szenen für meine Mitmenschen, wenn ich abends um elf, auf meine Uhr starrend, vor der Haustüre auf- und abtiger, bis das dösige Ding endlich das angestrebte Ergebnis präsentiert. Da kam mir der nächste Abschnitt des Projekts doch ganz gelegen: Eine Stunde Geh-Meditation am Tag. Wunderbar, endlich musste ich Achtsamkeitübungen nicht mehr vorrangig auf einem Sitzkissen praktizieren und zum anderen bekam ich so meine Schritte voll. Der Teil meiner Persönlichkeit, der für Effizienz brennt, hüpfte begeistert. Bei der Suche nach etwas literarischer Inspiration zu dem Thema, wurde ich regelrecht erschlagen. Von Buddhismus, über Heilpraktiker, Yoga-Blogs oder Gesundheit-Zeitschriften. Dafür, dass es sich beim Gehen ja prinzipiell um nicht mehr oder weniger handelt, als unfallfrei einen Fuß vor den anderen zu setzen, gab es scheinbar eine schier grenzenlose Menge dazu zu sagen. Ich entschied mich einfach mal anzufangen, mit einer Achtsamkeits-Übung, die ich oft zu Beginn meiner Yogapraxis praktiziere. Kurz gesagt: Gehend wahrnehmen. Ich sags mal so: Nach Lockdown-Woche 1-weißnichtwieviel“ war spaziertechnisch im Radius von fünf Kilometern wirklich nahezu jede Gasse abgegrast, sodass die Hoffnung ungeahnt Neues zu entdecken, sich arg in Grenzen hielt. Ich wurde aber schnell eines Besseren belehrt. Während die Geh-Meditation am Tag eins noch etwas oberflächlicher stattfand (Was kannst du sehen? Kannst du Sonne oder Wind auf der Haut spüren? Wie fühlt sich der Kontakt zum Boden an? Welche Geräusche nimmst du wahr? Was kannst du riechen?), wurde ich an den folgenden Tagen schon etwas kreativer: Jeden Mittag laufe ich aktuell eine halbe Stunde Richtung Innenstadt, und eine halbe Stunde zurück. Und jedes Mal mit einem anderen Thema:
- Welche unterschiedlichen Pflanzen begegne ich auf dem Weg?
- Was lässt sich in den Fenstern der ersten Stockwerke in den Gebäuden auf dem Weg entdecken?
- Wieviele unterschiedliche Gerüche lassen sich auf der Strecke erkunden?
- Wie lang kann ich mich ausschließlich auf das Gefühl und das Geräusch meiner eigenen Schritte konzentrieren?
Und der aktuelle Bestseller: Wo lassen sich überall Wahlplakate entdecken (und diese dann bitte wertfrei wahrnehmen. Haha). Falls du diesen Artikel hier gerade liest und dir denkst: „Na schönen Dank auch, wo soll ich denn bitte eine Stunde Lebenszeit herbekommen um gemütlich in die Innenstadt zu spazieren?“, gibt es, wie versprochen, natürlich auch praxisnahe Versionen:
Für Vollzeit Haushalts-Manager*innen: Gehmeditation mit Gegenständen (Arbeite dich achtsam vom Schlafzimmer, übers Kinderzimmer bis zur Küche vor. Wieviel unterschiedliche Socken, Spielzeuge, abgestellte Kaffeetassen und überquellende Wäschesäcke kannst du (WERTFREI) auf deinem Weg entdecken? Der Büro-Bewohner: Schreite unauffällig vom Kopierer über die Flure bis zum Kantine: Wieviel Krawatten lassen sich auf dem Weg finden? Welche Muster hat der Linoleumboden? Und für Handwerker*innen: Wieviel bedachte Schritte lassen sich durch den Rohbau machen, bevor der Polier ziemlich unachtsam gezielt die Kelle nach dir wirft?
Mal im Ernst: Es ist völlig klar, dass eine Stunde Mittagsspaziergang nicht in jede Lebenswelt passen, aber darum geht es auch nicht. Versuch es mit zehn Minuten. Und passe es an deine persönliche Situation dran. Die hast du auch nicht? Dann eine Minute? Du hast keine Minute? Dann möchte ich an dieser Stelle gern Cory Mascara zitieren: „Wenn dir eine Minute am Tag für dein bewusstes Leben fehlen, hast du definitiv ganz andere Probleme. Oder deine Prioritäten fragwürdig gewählt“. Das Problem mit der Achtsamkeit und auch mit der Meditation ist das Folgende: Ungünstigerweise fällt das nicht einfach vom Himmel. Das muss man aktiv Lernen. Und vor allem dran bleiben. Lieber jeden Tag fünf Minuten, als zwei Wochen gar nicht und dann die volle Breitseite Marathon-Meditation.
Aber zurück zu meiner Mittags-Gassirunde. Ab Tag sechs konnte ich beobachten, wie ich mich nicht mehr gesondert dazu motivieren musste, Mittags loszuziehen, sondern die Runde einfach dazugehörte, wie das Zähneputzen oder der Weg an den Schreibtisch. Ab Tag sieben beschlich mich das Gefühl, dass der Besitzer des kleinen Popup-Cafes auf dem Weg langsam dachte ich bin zu schüchtern nach`nem Date zu fragen, oder ich stalke ihn. Tag 8, 9, 10 und 11 waren mit minder-optimalem Aggregatzustand gesegnet: Es schüttete aus Eimern. Der Vorteil daran, wenn es Katzen hagelt, man trifft weniger Leute auf seine Route die einen ablenken und man kann sich ziemlich deutlich auf das „Fühlen“ konzentrieren, wenn einem gefühlt 4 Liter Wasser in der Minute ins Gesicht peitschen. Ein kurzes Achtsamkeit-Intermezzo entstand an einer Kreuzung, über die ich, gewissenhaft bei Grün lief, konzentriert meine Schritte zählend und mich dann wenige Sekunden später fast ziemlich unachtsam überfahren wiederfand. Der abbiegende Autofahrer hatte offensichtlich wenig Aufmerksamkeit für mich und meine grüne Ampel und nachdem ich ihm im rekordverdächtigen Hechtsprung aus dem Weg gehüpft bin um mich nicht zeitnah mit dem Thema Reinkarnation auseinanderzusetzen, fuhr der werte Herr einfach weiter ohne mit der Wimper zu zucken. So ein Penner! Das war nicht wirklich wertfrei und mein Puls war gefühlt auf hundertachtzig. Ich konnte mich im letzten Moment davon abhalten, ihm nicht ziemlich unyogimäßig mein mittleres Finger-Endgelenk entgegenzustrecken, aber mit der inneren Ruhe war’s erstmal hin. Ich weiß nicht, ob das am Aufwachsen im Herzen des Ruhrgebiets liegt oder einfach an meinem Charakter, aber sagen wir mal, bevor ich meinen persönlichen Yogaweg begonnen habe, neigte ich zu gelegentlichen Kernschmelzen, die sich in solchen Situationen immer nochmal bemerkbar machen. Da hilft nur eins: Mehr nette Gedanken kultivieren, weniger Autofahrer vorm geistigen Auge erwürgen.
Metta-Meditation
Ab Tag 12 kam die Sonne zurück, aber mir gingen allmählich die Ideen aus, welches Hilfsmittel ich mir für meine Konzentration suchen konnte, also probierte ich etwas anderes: Kennst du Metta-Meditationen, auch loving-kindness Meditation genannt? Ich werde mich hüten, mir anzumaßen den gesamten Buddhismus erklären zu können, da jedoch sehr viele Meditationstechniken aus dem Buddhismus kommen, möchte ich dir den ein oder anderen Ansatz nicht vorenthalten. Ein Aspekt, der unsere westliche Denkrichtung prägt, ist die dualistische Denkweise. Also grob gesagt, die Einteilung in „gut“ oder „schlecht“, und „Ich“ oder „Du“. In unserem Weltbild herrscht in der Regel die scharfe Trennung von „ich“ und „die anderen“ vor. Der ein oder andere verfügt vielleicht über ein paar „Ichs“ zu viel, aber im Grunde betrachten wir uns als ziemlich einsam abgetrennt von „den anderen da draußen“. In den buddhistischen Praktiken, die ich bisher kennenlernen durfte, liegt das Bestreben zum Einen in einer neutralen und wertfreien Wahrnehmung der Dinge, also ohne die duale Kategorisierung und zum Anderen, in der Stärkung der Verbundenheit und der Wahrnehmung als Gemeinschaft, Einheit, statt der Abgrenzung des Subjekts. Das mag etwas befremdlich klingen, bietet aber folgenden Vorteil: Wenn es uns wirklich schlecht geht. Wir Leid erleben, Ablehnung, Schmerz oder Verlust, dann geht da sehr oft das Gefühl mit einher, damit alleine zusein. Man fühlt sich irgendwie isoliert mit seinem Schicksal (wieso passiert sowas immer mir?). Sich in solchen Zeiten die Verbundenheit zu anderen bewusst zu machen, zu verstehen, dass Leid, Ablehnung, Schmerz und Verlust die ältesten Gefühle der Welt sind. Und unsere Vorfahren, Nachfahren und Mitmenschen dieses Gefühl genauso kennen, kann dabei helfen, dass es einem, unabhängig vom jeweiligen Schicksal, besser geht. Damit dieses Wir-Gefühl aber auch in schlechten Zeiten entsteht, ist es ratsam, die Vorstellung öfter in seine Praxis mit aufzunehmen.
Der andere Punkt, und wir kommen gleich zurück zur Metta-Meditation (versprochen), ist die Summe und Dauer von negativ erlebten Gedanken, die wir pro Tag so durchdenken. Ohne deine Gedanken nun gleich wieder in zwei Schubladen zu befördern, aber was schätzt du wie viel Prozent deiner täglichen Gedanken am Tag eher heilsam und förderlich für dich sind, und wieviel eher an die zehren, oder wirklich negativ sind? Die Forschung geht aktuell davon aus, dass der Mensch am Tag 20.000-70.000 Gedanken denkt. Davon seien etwa 3% positiv, konstruktiver Natur. Auch wenn die Zahlen im Einzelfall sicher stark variieren, sind das unterm Strich immer noch verdammt viele Gedanken und verdammt wenig Disney-Feeling, wenn du mich fragst. Die gute Nachricht: Daran kann man aktiv etwas ändern. Funktioniert aber ungefähr so wie beim Ackerbau: Du kannst dich nicht, sobald du Hunger hast, mit deiner Schüssel ans Feld stellen und hoffen, dass dir da Müsli reinfällt. Streu die Samen aus, rupf das Unkraut, gieß regelmäßig und am Ende wirst du dich über eine reichhaltige Ernte hören (Zerstör mir meine Metapher bitte nicht mit Regenknappheit, Überflutungen oder Heuschreckenplagen. Dein Gedankenfeld wird blühen, Punkt! 🙂 )
Soweit also mal der grobe Rahmen der Theorie. Wer also weniger Tourette im Kopf möchte, muss aktiv was dafür tun und dafür, Trommelwirbel, (wir kommen endlich wieder auf den Punkt): Ist die Metta-Meditation ein ziemlich gelungener Ansatz. Grob gesagt geht es darum eine freundlich-wohlwollende Haltung gegenüber allen Mitmenschen und Lebewesen zu kultivieren. Bevor man diese Haltung anderen gegenüber entwickelt, fängt man in der Regel an, diese erst zu sich selbst zu entwickeln. Eine Metta-Meditation kann also Formulierungen enthalten, wie:
- Möge ich stets leicht durchs Leben gehen
- Möge ich frei von Gefahr sein
- Möge ich gesund sein
- Möge ich in Frieden leben
- Möge ich sicher sein
Hat man eine gewisse Übung darin, diese Sätze an sich selbst zu richten, wäre der nächste Schritt, seine Worte der lieben Güte an andere zu richten. Erstmal an neutrale Personen und anschließend auch umfassender. Nachdem ersteres schon fester Bestandteil meiner Meditationspraxis war, dachte ich, ich sei bereit für Schritt zwei. Ich beschloss meine Gassi-Runde nun mit einer Mettameditation zu verbinden und jedem vorbeikommenden Menschen etwas Gutes zu wünschen. Im Kopf. Falls ich das dazusagen sollte.
Ich sag’s mal so: Ob nur gedacht, oder tatsächlich laut ausgesprochen, es fühlt sich am Anfang doch ein wenig creepy an, seine Gedanken gezielt auf die Person zu feuern. „Mögest du da auf deinem Hollandrad ein entspanntes und erfülltes Leben haben“ BAM! TREFFER! Nachladen, zielen. „Du da, mit deinem wertfrei komisch rasierten Pudel an der Leine, mögest du, obwohl du seine Hinterlassenschaft einfach auf dem Bürgersteig hast liegen lassen, trotzdem frei von Krankheit bleiben und in Frieden leben“ PENG! Der saß! Fühlte sich an wie eine ganz seltsame Variation von Gute-Laune-Voodoo. Nur mit weniger Nadeln. Ich brauchte wirklich ein wenig um reinzukommen. Aber die Aussicht darauf, einfach mal eine Stunde lang nur positive Dinge in meinem Kopf zu haben und gleichzeitig zu üben mich überhaupt so lange auf etwas konzentrieren zu können, schien mir den ganzen Aufwand wert. An Tag zwei ging die ganze Güte schon wesentlich flüssiger von der Hand und ich erwischte mich bei den ersten Allmachts-Phantasien meines Lebens: „Möget ihr da drüben an der Bushaltestelle auf Ewig gesund und zufrieden sein und wunderbare Dinge erleben“. Ich war ein Gedanken-Gott. Herrlich! Ich fühlte mich langsam routiniert, spürte eine erhebliche Verbesserung meiner Gesamtlaune (was zu Teilen daran liegen kann, dass mein Kopf nach einiger Zeit angefangen hat, die positiven Wünsche an seine Mitmenschen im starken ostdeutschen oder bayrischen Dialekt zu formulieren, oder abwechselnd die Stimmen von Bruce Willis und Marcel Reich Ranicki zu verwenden. Vermutlich nicht im Sinne des Erfinders der Metta-Meditation, aber technisch betrachtet immer noch nah dran :))
Während ich gerade noch dabei war, mir meinen nächsten Voodoo für den vorbeilaufenden Postboten zu überlegen, hielt ich innerlich kurz inne. Die zwei Radfahrer, die soeben an mir vorbeiradelten waren Exfreund nebst neuer Freundin. Das Verhältnis ist, grob gesagt, etwas angespannt. Jetzt oder nie: Es war Zeit für den Metta-Endgegner. Ich probierte die freundlichsten Wünsche, die ich finden konnte innerlich in ihre Richtung zu senden. „Möget ihr eine wundervolle und erfüllende Partnerschaft führen“. Kurze Schnappatmung. Zucken in der rechten Herzkammer. Ok. Vielleicht eine Spur drunter: „Möget ihr ein langes und gesundes Leben führen“ Rechtsdrehung des Magens, kurzer Krampf in der Speiseröhrengegend. Ok. Ok. Vielleicht noch eine Priese drunter. „Möget ihr….atmen“. Ich spürte nach. Nichts. Kein Kreislaufzusammenbruch, kein Zucken im Augenlid. Zugeben, manchmal ist die Hürde doch sehr groß, und es dauert seine Zeit, bis man sich mit dieser Form der Meditation wohlfühlt und sich drauf einlassen kann, aber glaub mir, es hilft wirklich! Wenn ich nicht gerade in Expartner oder Autofahrer gerannt bin, hat sich ein so erleichterndes Gefühl in mir eingestellt und es ist unglaublich befreiend, wirklich eine Stunde am Tag darauf zu verwenden bewusst positive und freundliche Gedanken zu säen. Mein Feld sieht aktuell noch etwas kahl und stellenweise verdächtig vernachlässigt aus, aber ich gelobe ein besserer Gärtner zu werden 🙂 Und jetzt ab ins Beet mit dir!